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Aus einem in die Erde gepflanzten Samenkorn sprießt eine Pflanze mit grünen Blättern, aus deren Mitte eines Tages eine Knospe erwächst, die sich zu einer prächtigen Rosenblüte entfaltet. Für den Aktionskünstler Joseph Heinrich Beuys symbolisiert die Rose eine Form allmählicher gesellschaftlicher Veränderung, die er anlässlich der dokumenta 5 1972 wie folgt erläuterte: „Diese Blüte kommt nicht ruckartig zustande, sondern nur aufgrund eines organischen Wachstumsvorganges, der so angelegt ist, dass die Blüten keimhaft veranlagt sind in den grünen Blättern und aus diesen ausgebildet werden. So ist die Blüte in Bezug auf die Blätter und den Stiel eine Revolution, obwohl sie in der organischen Umgebung gewachsen ist, die Rose wird als Blüte nur möglich durch diese organische Evolution“.
Den Studenten Hans Scholl und Alexander Schmorell werden diese Gedanken wohl nicht gekommen sein, als sie im Juni 1942 die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gegen das Nazi-Regime gründeten. Die Namenswahl mag Zufall gewesen sein, vielleicht war sie auch durch literarische Vorbilder beeinflusst. Und doch passt das Sinnbild der allmählichen Veränderung auch auf Hans und seine Schwester Sophie. Denn beide waren zunächst glühende Anhänger des nationalsozialistischen Gesellschaftsideals und engagierten sich in Jugendorganisationen der NSDAP. Ein religiös und politisch liberales Elternhaus könnte der „organische Nährboden“ dafür gewesen sein, dass sich die Geschwister schließlich vom Fanatismus und der bedingungslosen Unterordnung unter die staatlichen Machtstrukturen, die in der Hitlerjugend vermittelt wurden, abwandten. Während der drei Jahre ältere Hans zum Medizinstudium nach München ging, verliebte sich Sophie in den Offizier Fritz Hartnagel, machte ihr Abitur und ließ sich zur Kindergärtnerin ausbilden. Im Mai 1942 folgte sie ihrem Bruder an die Ludwigs-Maximilian-Universität und begann ein Studium der Philosophie und der Biologie.
Gemeinsam mit seinem Freund Alexander Schmorell hatte Hans Scholl inzwischen die „Weiße Rose“ gegründet. Die Gruppe druckte und verteilte Flugblätter, um auf die Verbrechen der Nazis aufmerksam zu machen. Schnell wuchs der Kreis der Unterstützer*innen über die Münchener Studierendengruppe hinaus. Eines der Flugblätter fand schließlich sogar den Weg nach Großbritannien und wurde von englischen Kampffliegern über Deutschland abgeworfen. Dass auf derartige Aktionen im Jahr 1942 die Todesstrafe stand, war den jungen Leuten nur allzu bewusst. Anfänglich versuchte Hans daher, seine Schwester aus der Gruppe herauszuhalten – doch die mutige Sophie ließ sich von ihrem Engagement nicht abbringen.
Am 18. Februar 1943 brachten die Geschwister einen großen Koffer mit an die Universität. Dieser enthielt nicht etwa die schmutzige Wäsche, die sie angeblich daheim in Ulm waschen lassen wollten, sondern war bis zum Rand mit neuen Flugblättern gefüllt. Vor dem Beginn der Vorlesungen schlichen Hans und Sophie durch das Gebäude und legten die Blätter aus. Aber damit nicht genug: Einen der Stapel ließ Sophie in den Lichthof hinunterregnen – alle sollten darüber stolpern, lesen, was sie über die Nazis zu sagen hatten! Doch zunächst wurde der Hausmeister auf die beiden aufmerksam. Er ließ Hans und Sophie in sein Büro bringen und verständigte die Polizei. Diese verhaftete die Geschwister sowie ihren Mitstreiter Christoph Probst. Der Prozess, an dessen Ende drei Todesurteile gesprochen wurden, dauerte nur wenige Tage. Am 22. Februar wurde Sophie Scholl enthauptet. Sie wurde nur 21 Jahre alt. „So ein herrlicher Tag und ich muss gehen. Aber was liegt an unserem Leben, wenn wir es damit schaffen, Tausende von Menschen aufzurütteln und wachzurütteln“, waren ihre berühmten letzten Worte.
Menschen auf- und wachrütteln – für Joseph Beuys kam diese Aufgabe der Kunst zu. Schon als Schüler hatte er den Plan gefasst, Bildhauer zu werden, doch vergingen Jahre, bis er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte. Ähnlich wie die Geschwister Scholl ließ sich auch Beuys von den Versprechungen der Nazis blenden. 1941 meldete er sich freiwillig zur Luftwaffe, wurde bei einem Flugzeugabsturz verwundet und geriet nach Kriegsende in britische Gefangenschaft. 1946 immatrikulierte er sich schließlich an der Kunstakademie Düsseldorf und wurde Meisterschüler von Ewald Mataré.
Die zoologischen und naturwissenschaftlichen Studien, die er nebenbei betrieb, flossen in seine Auffassung von Kunst ein: Wie die eingangs erwähnte Rose, die in organischer Umgebung wächst und deren Gestalt in den Blättern bereits angelegt ist, ist Kunst für Joseph Beuys Ausformung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Beuys begriff die Kunst dabei jedoch nicht nur Ausdrucksmittel. Vielmehr stellte für ihn die Gesellschaft selbst eine Kunstform dar, eine „soziale Plastik“, an der jeder Einzelne durch sein tägliches Handeln, durch seine Spiritualität, seine Offenheit, seine Kreativität und Phantasie mitgestaltet. Wie dies ganz konkret aussehen kann, zeigte Beuys beispielsweise mit der Skulptur „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“, die er zur Dokumenta 1982 entwarf und die aus 7000 zu pflanzenden Eichen bestand; jede von ihnen mit einer Basaltstrele verbunden.
Da nach Beuys Auffassung damit jeder Mensch ein Künstler ist, lehnte er die Anwendung formaler Auswahlkriterien an den (Kunst-)Hochschulen ab. Gemeinsam mit Kollegen gründete er an der Kunstakademie Düsseldorf, an der er ab 1961 lehrte, die „Freie Internationale Universität“, die jedem und jeder zur Entfaltung offenstehen sollte. Freunde machte er sich unter den Universitätsangehörigen damit nicht nur: 1972 verlor er nach wiederholten Protestaktionen seine Professur. Parallel dazu trug Beuys seine Idee der „sozialen Plastik“ auf die politische Bühne: Die von ihm ursprünglich als Reaktion auf die Studentenunruhen 1967 gegründete Deutsche Studentenpartei (DSP) die sich für die Erziehung der Menschen zur Mündigkeit, Waffenlosigkeit und ein geeintes Europa einsetzte, benannte er 1970 in „Organisation der Nichtwähler“ und wenig später in „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ um. Ziel der Vereinigung war, Menschen aller Gesellschaftsschichten für den individuellen und sozialen Transformationsprozess analog der plastischen Theorie zu gewinnen und die Gesellschaft in Recht, Kultur, Wirtschaft und Bildung von staatlichen Einflüssen zu emanzipieren. Welche Abgründe dieser Weg mitunter aufwies zeigte sich, als Beuys bei den Bundestagswahlen 1976 als Spitzenkandidat für die Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher antrat. Die AUD bezeichnete sich zwar als Deutschlands erste Umweltschutzpartei, versammelte unter ihrem Dach jedoch auch nationalkonservative und offen rechte Strömungen. Erst allmählich setzte sich in der AUD ein linkerer Kurs durch, mit klarer Distanzierung zur NPD, mit Ablehnung des Vietnamkriegs, konsumkritischer Haltung und Forderung nach direkter Demokratie und genossenschaftlich geprägter Wirtschaft. 1978 bildete die AUD bei der Landtagswahl in Bayern mit der Grünen Aktion Zukunft ein Bündnis, das sich erstmals die Zusatzbezeichnung „Die Grünen“ gab. Im Jahr darauf entstand hieraus die „Sonstige Politische Vereinigung Die Grünen“, die jetzt mit einer bundesweiten Liste zur Europawahl antrat. Auf der Liste: Joseph Beuys. Der „Mann mit dem Hut“ war auch dabei, als sich im Januar 1980 schließlich die GRÜNEN gründeten. Für die neue Partei gestaltete er Wahlplakate und nahm gemeinsam mit der Band von Wolf Maahn und den Musikern von BAP den Abrüstungssong „Sonne statt Reagan“ auf. Als Beuys sich 1983 bei der Aufstellung der NRW-Landesliste zur Bundestagswahl nicht auf einem vorderen Listenplatz durchsetzen konnte, zog er sich aus der Politik zurück. Mitglied bei den GRÜNEN blieb er jedoch bis zu seinem Tod im Januar 1986.
Sophie Scholl und Joseph Beuys – zwei Menschen, die zeigen, wie jede*r Einzelne durch das eigene Handeln etwas bewirken, andere wachrütteln und den Keim für eine revolutionäre Veränderung legen kann, gleich der Rose, deren grüne Blätter sich zu einer Blüte wandeln. Auch noch in 100 Jahren.
Wie würde Sophie Scholl sich heute äußern? Was würde sie aus ihrem Leben posten oder twittern? Ein Projekt des SWR und des BR zeigt die letzten Lebensmonate von Sophie Scholl in Instagram-Posts und richtet sich damit vor allem an die heute junge Generation. Auf Instagram @ichbinsophiescholl
Die Doku „Beuys“ von Andreas Veiel ist noch bis zum 13.05. in der ARD-Mediathek abrufbar.
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